Berge & Menschen Bergwelten

Bergwacht-Urgestein Hans Hibler: Im Lawineneinsatz „keinen Lebenden rausgeholt“

Er stirbt am Berg. Mit 33 Jahren. Dachte Hans Hibler 1966. Er hat überlebt. Irgendwie. Und absolvierte zahllose Bergwachts-Einsätze. An manch einem wären andere zerbrochen.

I von Katharina Bromberger


Hans Hibler will „nur schnell“ das Fotoalbum holen. Das mit den vielen Zeitungsausschnitten, die seine Einsätze in den Bergen dokumentieren. Es liegt nebenan. Doch „nur mal schnell etwas holen“, das funktioniert nicht mehr. Der 1,90-Meter-Mann rutscht von der gepolsterten Eckbank. Jeder Schritt schmerzt beim Gehen. Das kann er nicht verbergen, auch wenn er es gerne täte. Die Hüfte bewegt sich übertrieben mit, als wolle sie den Beinen helfen, vorwärtszukommen. Die Füße mit den Pantoffeln hebt er nur wenig vom Boden auf, manchmal ertönt das langsame, schlurfende Geräusch eines alten Mannes.

Hans Hibler auf dem Weg zum Lawinenkurs Mitte der 1950er Jahre. © Repro: Thomas Sehr


Hibler kann auch nicht verbergen, dass ihn der kurze Weg nach nebenan anstrengt. Ein paar Mal schnauft er tief durch, als er zurück auf die Eckbank rutscht, das grüne Fotoalbum in der Hand. Erst dann erzählt er weiter. Von der Zeit, als Hans Hibler für die Berge, die Bergwacht und das Retten von Menschen lebte. Als er 1951 die Lawinenhunde-Staffel der bayerischen Bergwacht und damit die erste Lawinenhunde-Staffel Deutschlands ins Leben rief. Und er erzählt von dem Moment, der ihn, den durchtrainierten jungen Mann, den Berg- und Skiführer, aus dem Leben riss.


1966 stürzt Hans Hibler ab: „Das war’s eigentlich für mich“


Frühjahr 1966. Hibler weiß den Tag wie heute. „Jajajajaja“, alles weiß er noch. Jeden Moment. Als Mitglied der örtlichen Lawinenkommission soll der 33-jährige Hibler mit Kollegen an der Hochalm Wächten abtreten, damit das Landratsamt den Weg zum Kreuzeck für Touristen öffnen kann. Doch eine Wächte bricht. Sie reißt Hibler 50 Meter in die Tiefe. „Das war’s eigentlich für mich“, sagt er heute – und glaubt er auch im Moment des Unfalls.

Immer haben Hans Hibler Hunde begleitet, so wie hier (2013) die Border-Collies Casper und Angi. © Thomas Sehr


Seine Stimme ist leiser, sein tiefes Werdenfelser Bayerisch wird derber. „Mit dem Arsch bin i auf der Felskante gelandet. Ich wusste gleich, was los war.“ Becken gebrochen – 17 Zentimeter weit war Hibler in der Mitte durchgespalten –, fünf Wirbel kaputt, die Niere ebenso, Bauchgefäße gerissen. Den Kameraden gibt er noch Anweisungen, wie sie ihn am besten versorgen sollen, die meiste Zeit aber ist er bewusstlos. Und wundert sich, als er im Krankenhaus Murnau wieder aufwacht. „Es war eigentlich schon ein Wunder, dass ich da oben nicht verblutet bin.“ Es sollte noch ein Wunder folgen.


Sieben Monate liegt Hans Hibler nur im Bett: "Ich war mehr tot als lebendig"


Vier Monate lang hängt Hibler buchstäblich in der Luft: Nur Kopf und Fersen berühren das Bett, damit das Becken wieder zusammenwachsen kann. Viele Komplikationen treten in den folgenden Wochen auf: Lungenembolie, Gelbsucht, „ich war mehr tot als lebendig“. Sieben Monate lang setzt der einstige Top-Alpinist, der Berg- und Skiführer, der hauptamtliche Bergwachtler, keinen Fuß auf den Boden, die meiste Zeit wird er gefüttert. Die Ärzte bezweifeln, ob Hibler jemals wieder wird gehen können. Sie haben ja keine Ahnung.


„Ihr könnt’s machen, was ihr wollt, i stirb ned im Bett drin.“ Das beschließt er nach über einem halben Jahr „als Hackstock im Bett“. Alles ist starr und steif. Heimlich übt Hibler. Sein erster, großer Erfolg: Er dreht sich alleine auf den Bauch. Dann der Katzenstand auf Ellbogen und Knien. Dann hängt er mal die Füße aus dem Bett… Alles streng verboten. „Ich bin einfach der schlechteste Patient, den es gibt.“

Wuide Hund: Toni Reindl und Hans Hibler (r.) zogen das erste dünne Stahlseil zum Bau der Eibsee-Seilbahn hinunter bis zum Riffelriss (1961). Fünf Jahre später verunglückt Hibler schwer. Er kämpft sich zurück. © Repro: Thomas Sehr


An seinem Bett diskutieren die Herren Doktoren und Schwestern bei einer der vielen Visiten, ob sie es mal wagen sollen. Ob es nicht noch zu früh ist, ihm auf die Beine zu helfen. Hin und her überlegt haben sie. „Da braucht’s ned zu überlegen“, sagt der junge Mann. „Schaut’s nur zu.“ Und er steht auf. Zu diesem Zeitpunkt übt er längst das Gehen.


Der Körper macht nicht mehr mit: „Jetzt ist Schluss. Ich rühr keinen Ski mehr an“


Seinen Beruf als Bergführer musste er aufgeben, er schulte zum Masseur um. In die Berge marschierte er weiter, rückte mit der Bergwacht und der Lawinenhunde-Staffel aus, als Erfinder der berühmten Hibler-Packung (siehe Kasten) hielt er Vorträge. In den 1990er Jahre trat er als aktives Bergwachts-Mitglied zurück. Blamiert habe er sich. Er, ein Bergwachtler, der kaum mehr auf Ski den Berg hinuntergekommen ist. Weil der Körper nicht mehr mitmachte. „Jetzt ist Schluss. Ich rühr keinen Ski mehr an.“ Er sagt’s heute wie er es wohl auch damals gesagt hat. Ein wenig wütend. Endgültig. Ohne jedes Klagen.

Seit 1949 Jahren dabei: Bergwacht-Ehrenmitglied Hans Hibler (sitzend) trägt sich in das Goldene Buch des Marktes Garmisch-Partenkirchen ein. Geehrt haben ihn (v.l.) Thomas Müller und Andreas Dahlmeier von der Bergwacht  und Zweite Bürgermeisterin Claudia Zolk. © Bergwacht Garmisch-Partenkirchen


Man muss das Leben nehmen, wie es kommt. In diesem Bewusstsein ist der Farchanter aufgewachsen. Als Buben brachte es ihn in die Berge. Nicht, weil er von kleinauf davon träumte, einmal die hohen Gipfel der Welt zu besteigen. Nein. Er hatte einfach Hunger.


Berge, Schafe- und Rinderhüten statt Schule – fürs Essen


Hiblers Vater fiel im Krieg, da war der Bub neun Jahre alt. Seine Mutter versorgte fünf Kinder. Lebensmittel, Kleidung – alles war knapp. „Wir mussten was tun, um etwas zu essen zu bekommen.“ Also ging Hibler im Sommer zum Rinderhüten statt in die Schule. Lohn bekam er kaum, dafür Mahlzeiten auf den Berghütten. Mit 13 wurde er Schäfer, war für 500 Tiere verantwortlich. Seine engsten Begleiter waren immer die Hunde.

Für jeden Spaß zu haben: In der TV-Sendung "Wenn schon, denn schon" ist Hans Hibler 1990 dabei - und er trifft die schönsten Frauen des Jahres 1990: Miss Deutschland Leticia Koffke (l.) und die Zweitplatzierte. Immer dabei: sein Hund. © Repro: Thomas Sehr


Mit einem „Köter“ – Hibler sagt’s, als spreche er von einer ansteckenden Krankheit – kann er nichts anfangen. Also alles Unerzogene. Die Tiere, mit denen er einen Großteil seines Lebens zu tun hatte, gehorchen aufs Wort, der Hund und sein Herrchen verstehen sich blind, bilden eine Einheit. So wie Hibler und Vroni.


Vroni – die einzige Hündin mit Freifahrt in Bus und Seilbahn


Die Vroni. Jeder im Ort hat sie gekannt. Der Busfahrer freute sich schon, wenn die Hunde-Dame wieder in Farchant an der Bushaltestelle stand, um sich von ihm an den Marienplatz in Garmisch-Partenkirchen kutschieren zu lassen. Dort stieg sie in die nächste Buslinie zur Kreuzeckbahn. Dann weiter mit der Gondel. Vronis Ziel: das Bergwachthaus am Kreuzeck. Sie suchte Hans Hibler. Und war beleidigt. Schließlich hatte er sie, Vroni, die stolze deutsche Schäferhündin, einfach zuhause gelassen. Ein Unding. Hibler lacht. Nach Blanca war „die Vroni“ vor um die 60 Jahren sein zweiter Lawinenhund und „wohl der Einzige, der eine Freifahrt in Bus und Seilbahn hatte“.

Feierstunde: Der Rettungsstützpunkt Kreuzeck der Bergwacht Garmisch-Partenkirchen wird 2017 eingeweiht. Mit dabei ist Hans Hibler, Ehrenmitglied der Bergwacht Garmisch-Partenkirchen, hier mit Norbert Heiland (l.), dem damaligen Vorsitzenden der Bergwacht Bayern. © Thomas Sehr


Über Jahrzehnte gab es für Hibler nur einen wahren Hund: den deutschen Schäferhund, einen mit „gutem Wesen“ und idealerweise kurzem Fellkleid – damit sich kein Schnee darin verfängt oder Wasser darin gefriert. Sie waren die besten Lawinensuchhunde, die auch heute in Zeiten von Handy und Sicherheitsausrüstung rund um ABS-Rucksack, Verschüttetensuchgerät, Lawine und Sonde nicht zu ersetzen sind. Die Tiere brachten Hibler internationale Anerkennung als „Lawinenhunde-Guru“, den Bayerischen Verdienstorden und manch ein Erlebnis, das er sich gerne erspart hätte.


Explosion im Hotel Riessersee: „Solange das Madl drin ist, gehen wir hinein“


Den 27. Dezember 1987 würde Hans Hibler am liebsten ungeschehen machen. Eine Gasexplosion verwüstete das Hotel Riessersee in Garmisch-Partenkirchen, elf Menschen starben. Hibler und seine Männer von der Hundestaffel suchten in den Trümmern nach Toten und Verletzten. Rettungskräfte und Polizei sperrten alles ab, es herrschte akute Explosionsgefahr. Hibler suchte weiter. Die Tochter eines Freundes lag irgendwo unter Schutt und Beton. „Solange das Madl da drin ist, gehen wir hinein“, er und sein Hund. Sie fanden das Kind. Tot.

Trümmer, zerborstene Scheiben, Schutt, wohin man blickt. Knapp 300 Rettungskräfte sind nach diesem Inferno im Einsatz - darunter Hans Hibler. Er riskiert sein Leben. © Ludwig Hutter


Nur 17 Jahre alt wurde Georg Basista. 20 Stunden lang haben Hibler, sein Hund und die Kameraden am 8. Dezember 1974 nach ihm gesucht. Bei einer Bergwachtsübung war an der Arnspitze eine Lawine abgegangen. Tonnen von Nassschnee begruben zwei junge Kameraden unter sich. Das Schicksal des 16-jährigen Hans Struss wurde in den Medien als „Wunder von Mittenwald“ gefeiert, er hatte 20 Stunden lang in einer Schneehöhle überlebt. Georg Basista starb, Hibler war bei der Bergung der Leiche dabei.


Lawineneinsatz: „Ich habe keinen einzigen Lebenden rausgeholt“


Einen perfekten Skitag erlebten hunderte Wintersportler am 15. Mai 1965 auf der Zugspitze. Viele sonnten sich in den Liegestühlen. Da kam die Lawine. Sie löste sich um 13 Uhr oberhalb des Schneefernerhauses, begrub die Menschen auf der Terrasse unter sich. Verwandelte das Zugspitzplatz in „einen einzigen Schuttplatz“. Hibler sah ihn als einer der Ersten. Tag und Nacht suchte er, eine Woche lang. Keine fünf Stunden hat er geschlafen. „Wenn man weiß, dass Menschen noch Hilfe brauchen, kann man nicht aufhören.“ Am Ende stand fest: 10 Menschen hatten die Lawine nicht überlebt. 21 wurden schwer verletzt.

Zehn Menschen kommen beim Lawinenunglück 1965 unterhalb der Zugspitze ums Leben. Hans Hibler hat den Einsatz miterlebt. © Blumenthal/Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen


In seinen vielen Jahren bei der Bergwacht – 1949 trat er ein – und der Lawinenhunde-Staffel – 1951 hat er sie gegründet – hat Hibler der Tod begleitet. In den zahllosen Einsätzen mit den Hunden „habe ich keinen einzigen Lebenden rausgeholt“. Hibler sagt‘s, als erzähle er vom Wetter. Es lag auch daran, dass er sich als Leiter im Lawineneinatz hinten anstellte, koordinierte. Er ließ anderen den Vortritt, um Leben zu retten. Er suchte Tote. Und meint: Wer keine Leichen, kein Blut und keine Verletzungen sehen kann „der hat bei dieser Arbeit nichts verloren“.


Nach Jahrzehnten erreichen Hans Hibler Dankesbrief und Bierkrug 


Mit der Bergwacht Garmisch-Partenkirchen war Hibler bei allen schwierigen Einsätzen in den 1950er und 60er Jahren dabei. Viele Leben hat er auch gerettet. Zahlen kennt er nicht, interessieren ihn nicht. Zwei Männer aber erinnerten ihn daran, was er geleistet hat.


Einen rettete er in einem Sommer von der Zugspitze. 50 Jahre später bekam er einen Brief. Der Bergsteiger hatte Hibler über Jahre gesucht, um Danke zu sagen. Seit der Rettung „empfinde ich mein Leben als Geschenk“, schreibt er, in der Handschrift eines betagten Mannes. Den anderen Mann holte Hibler aus der Alpspitz-Nordwand. 40 Jahre später schickte der Münchner einen Bierkrug, eingraviert die Worte „Vielen Dank für die Rettung eines jungen Lebens.“


Aus den Bergwelten im Sommer 2020

DIE HIBLER-PACKUNG

So manche Verunglückte haben Hans Hibler nach Bergwachts-Einsätzen lange nicht losgelassen. Jene Männer und Frauen, die seine Kameraden nach oft langer Suche fanden. Am Leben. Die dann plötzlich starben. Den Bergungstod. Das Herz versagte, als das kalte Blut aus dem Körper, aus den Armen und Beinen, zu schnell in den Körperkern zurückgeflossen war. Hans Hibler hat getüftelt. Und die Hibler-Packung als Erste-Hilfe-Maßnahme bei Unterkühlung (Hypothermie) erfunden. Damit wird der zentrale Kreislauf um Herz und Lunge wieder erwärmt, ohne dass das kalte Blut aus den Gliedmaßen zum Kern zurückfließt. Dafür legt man chemische Wärmebeutel – alternativ feuchtheiße Tücher – auf Brust und Bauch, jedoch nicht direkt auf die Haut. Es folgt Kleidung über dem Rumpf, nicht über Armen und Beinen. Am Ende wird der Körper in Decken oder einen Biwaksack eingepackt. Hiblers Erfindung überzeugte Rettungskräfte und medizinisches Personal gleichermaßen. Sie rettet Leben.