Berge & Menschen Bergwelten

Einzige Option: Das Leben auf Graseck

Anders nennt Christine Bartl das Leben auf Graseck. Und schön. Aber sicher keine reine Idylle. Sie kennt nichts anderes. Nur in Farchant hat sie mal gewohnt. Und einmal einen Ausflug an die Nordsee gemacht.

I von Katharina Bromberger


Zwei Stunden dauert die Fahrt von Dagebüll nach Amrum. Zwei Stunden auf der Fähre, die kreischenden Möwen in der Luft, die salzige Nordsee-Brise in der Nase. Die Kotztüte am Mund. Wann sind diese zwei Stunden endlich vorbei? Von Landschaft und Luft bekommt Christine Bartl nichts mit. Dem Mädchen ist zu schlecht. Kaum hat es die Fahrt überstanden, rotzt es Taschentuch um Taschentuch voll. Erst seekrank, dann Katarrh. Das soll Urlaub sein? Wirklich nicht. Nicht für Christine. 

Eine Familie, die zusammenhält: (v. l.) Toni Bartl senior und junior, Toni und Leni Ostler, Matthias und Anneliese Bartl. Tochter Christine wollte sich nicht fotografieren lassen. © Thomas Sehr


Seit dieser Abschlussfahrt nach der neunten Klasse hat sie den Landkreis Garmisch-Partenkirchen nicht mehr verlassen. Seit über 20 Jahren. Weiter als nach Murnau kam sie nicht. Will sie auch nicht. Die Frau Ende 30 hat, was sie braucht. Auf Graseck. Wo alles ein wenig anders ist als im Tal. Das Leben. Die Menschen.


Die Grasecker: Geradlinig, ehrlich und extrig


Ein eigener Schlag sollen sie sein, die Grasecker. Geradlinig, ehrlich, stur. So sagt man’s im Ort. Christine Bartl weiß das. Ist was dran, meint sie. Und stellt’s lächelnd unter Beweis. Auf eine Debatte, dass sie sich doch fotografieren lassen soll, lässt sie sich gar nicht erst ein. Nein, heißt nein.

Kurz war Christine Bartl mal in Farchant. Jetzt lebt sie wieder auf Graseck im Elternhaus. Fotografieren lässt sie sich nicht - keine Diskussion. © Thomas Sehr


Extrig. Auch das sagt man den Graseckern nach. Ist auch was dran, meint Bartl. Naturgegebene Charakterzüge. Schließlich mussten die Grasecker immer auf eigenen Beinen stehen, sich selbst und untereinander helfen in der Abgeschiedenheit ihrer Siedlung. Aber ja – sie haben Telefon. Strom, fließend Wasser. Sogar Internet, „stellt’s Euch das mal vor“. Christine Bartl lacht die Vorurteile weg, ob wahr oder unwahr. Sie interessieren sie ebenso wenig wie irgendein Gerede im Ort. Graseck, die Tratsch-freie Zone. „Bis der bei uns heroben ist, ist schon längst alles vorbei“, sagt Annelies Bartl, Christines Mutter.


Wirtschaft Hanneslabauer: Nur Selbstgemachtes - sonst gibt's lieber nix


Das Bild der Hinterwäldler – es passt ohnehin nicht zu den Bartls. Hunderte Touristen pilgern an schönen Tagen am Hof des Hanneslabauern vorbei und kehren ein. Seit Generationen betreibt die Familie dort eine Land- und Almwirtschaft. Christine Bartl kümmert sich um die Gäste, backt die Kuchen, hilft in der Küche. Immer nach dem Grundsatz: selbst gemacht. „Bevor‘s bei mir was Gekauftes oder Eingefrorenes gibt, gibt’s lieber nix.“

Selbstgemachter Kuchen, darauf legt Christine Bartl wert. "Bevor es beim mir was Eingefrorenes gibt, gibt's lieber nix." © Thomas Sehr


Bruder Toni (31) kümmert sich als gelernter Koch um die warmen Gerichte und als Landwirt mit seinem Vater um die Tiere und Wiesen. Wahrscheinlich wird er den Betrieb übernehmen. Ob er Lust darauf hat? Keine Sekunde denkt er über die Antwort nach. Natürlich. Graseck ist seine Heimat, sein alles. Ist es für seine Schwester auch, überlegt hat sie dennoch, ob sie zurückkommen soll.


Fünf Jahre Farchant - dann zurück nach Graseck zur Familie 


Fünf Jahre arbeitete Christine Bartl, gelernte Bäckereifachverkäuferin, in einer Bäckerei in Farchant, dort wohnte sie auch, fühlte sich wohl. „Ich wär‘ wahrscheinlich heute noch da.“ Wenn die Familie sie nicht gebraucht hätte. Denn ihre Mutter war krank geworden. Ernsthaft in Frage kam eine Absage für Christine Bartl wohl nie. „Sonst war keiner da, der es weitergemacht hätte.“


Also zog sie wieder ins Haus der Eltern, in den zweiten Stock. Die beiden Brüder und die Eltern – eine Schwester hat nach Farchant geheiratet – wohnen im ersten. Im Erdgeschoss die Wirtschaft samt Biergarten. Eines stellte Christine Bartl klar: Alleine schafft sie die Bewirtung der vielen Gästen nicht. Deshalb stellte die Familie vor zwei Jahren auf Selbstbedienung um.


Graseck, wo manche zum ersten Mal echte Kühe sehen


Die vielen Ausflügler am, im und um das Haus genießt sie, meist amüsieren sie die vielen Fragen. Erkundigen sich Gäste zum x-ten Mal nach dem Wetter, wollen sie gar wissen, ob es – bei strahlendem Sonnenschein – wirklich in fünf Minuten regnet, wie es die Wetter-App auf dem Smartphone behauptet, kommt schon mal die Grasecker’sche Geradlinigkeit durch. „Mei, schaut’s doch einfach nauf an Himme.“

Koch und Landwirt: Toni Bartl junior wird wahrscheinlich den Betrieb übernehmen. © Thomas Sehr


Oft hört Christine Bartl auch den Satz „Ist das schön hier oben“. Sie hört ihn gerne. Weil er stimmt. Und weil sich die Gäste wohlfühlen sollen beim Hanneslabauern. Zum ersten Mal sehen manche echte Kühe, erleben zum ersten Mal live Heu- und Stallarbeit, bestaunen zum ersten Mal den Blick auf das Wettersteinmassiv. Hier würden sie leben wollen, sagen viele. Manchmal rückt Christine Bartl diesen Satz zurecht. Schön mag das Leben sein auf Graseck, aber nicht Idylle pur. „Anders einfach.“


150 Höhenmeter zwischen oben und unten - und oben war die Freiheit


Etwa 150 Höhenmeter trennen den Eingang der Partnachklamm von Vordergraseck. Ein steiler Stich zwischen unten und oben, zwischen Kindern, die im Sommer nach der Schule am See lagen und Kindern, die in der Landwirtschaft halfen oder in der Gaststätte. Ob sie das Badengehen, das Nichtstun vermisst habe? Christine Bartl schüttelt den Kopf. Nichts habe sie vermisst, sie und ihre Brüder kannten es nicht anders. Außerdem – dieses Seeliegen, „das sind wir eh nicht“.


Fragen nach Entbehrungen stellen nur Menschen von unten. Als Grasecker sieht man nicht, was womöglich gefehlt hat oder fehlt. Sondern das, was das Leben dort oben so reich gemacht hat und macht. Die Freiheit. „Wir konnten als Kinder machen, was wir wollten“, sagt Leni Ostler, Christine Bartls Tante, die an diesem Tag mit ihrem Mann beim Heueinfahren hilft.


Muss man wirklich alles haben, was es unten gibt? 


Ihre Welt war ein riesiger Abenteuerspielplatz ohne Hauptstraßen, die jede Mutter zur Spiel-Verbotszone erklärt. Ohne Nachbarn, die auf ihre Mittagsruhe pochen. Unbezahlbar nennt sie die Freiheiten, die kaum ein anderes Kind erlebe. Und sie will wissen: Muss man wirklich alles haben, was es unten gibt? Christine Bartl schüttelt den Kopf. Nein, sagt auch ihre Tante. „Muaß ma ned.“

Auf Graseck ist Leni Ostler aufgewachsen, die Freiheit hat sie geliebt. Mittlerweile lebt sie im Tal. © Thomas Sehr


Seit 25 Jahren lebt Leni Ostler in Garmisch-Partenkirchen, nachdem sie Anton Ostler geheiratet hat. Dieser Weg von oben nach unten, sagt die 50-Jährige, ist der leichtere. Weil man Annehmlichkeiten gewinnt. Mal schnell etwas einzukaufen zum Beispiel. Vergisst Christine Bartl bei ihrer Fahrt in den Ort ein Stück Butter – „da fährst Du nicht schnell mal nochmal los“. Vor allem nicht im Winter.


Verkehr, Stau und Ampeln im Tal - "ja um Gottes willen"


Zwölf Jahre lang fuhr Christine Bartl die Strecke viermal am Tag. Bevor sie nach Farchant zog, als sie noch in Garmisch-Partenkirchen arbeitete und auf Graseck wohnte. In der Früh runter in die Bäckerei, mittags rauf zum Mithelfen, nachmittags runter, abends wieder heim. Heute fragt sie sich, wie sie das ausgehalten hat. Dieser Verkehr, Stau, Ampeln – „ja um Gottes willen“.


Ausschließen würde sie dennoch nicht, dass sie einmal wieder ins Tal zieht. Der Grasecker’sche Realitätssinn. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt. Vielleicht ja auch einmal einen Urlaub. Ein Ort fällt Christine Bartl am Ende doch ein, den sie gerne besuchen würde: den Zoo in Leipzig. Einen Fernsehbericht hat sie darüber angeschaut. Wenn’s nicht klappt – egal. Dann wartet sie auf die Betriebsferien beim Hanneslabauern auf Graseck. „Mir g’langt als Urlaub die Ruhe im November.“


Aus den Bergwelten im Herbst 2018