Berge & Menschen Bergwelten

Von der Lawine verschüttet: Anton Brey allein mit dem Atem

Eine Lawine hat Anton Brey verschüttet. Zehn Minuten wartete der Garmisch-Partenkirchner auf Rettung. Er erinnert sich an jede Sekunde.

I von Katharina Bromberger


Nur sein Atem. Sonst ist da nichts. Keine Freunde, die ihn rufen. Kein Wind, der pfeift, oder Schnee, der knirscht. Nur sein Atem. Anton Brey hört, wie er gegen die Schneewand neben seinem Gesicht prallt. Er fühlt, wie sich die Luft durch den Brustkorb quetscht. Das ist gut. Anton Brey lebt. Und er zweifelt nicht daran, dass das so bleiben wird.


Der Tag der Lawine: Die Sonne scheint, den steilen Aufschwung geschafft


Winter 2010. Zu Dreharbeiten für die Sendung „Bergauf Bergab“ ist Anton Brey, Filmer und Fotograf, in den Schweizer Alpen unterwegs. An diesem Tag bricht er mit dem Team von der Boval-Hütte zu einem Gipfel an einem Grat auf. Die Sonne scheint. Drei haben den letzten steilen Aufschwung unterhalb des Ziels schon hinter sich. Sie gehen einzeln, um das Gewicht auf dem Hang und damit das Risiko einer Lawine zu minimieren  – Routine für Tourengeher. Noch eine Spitzkehre – und auch die vierte Tourengeherin steht auf dem Plateau. Fehlen noch vier. Anton Brey ist der nächste.

Ein Leben ohne Schnee, Berg und Ski - das gibt es für Anton Brey nicht. An ein Aufhören hat er auch nach dem Lawinenunglück nicht gedacht. © Anton Brey


Der Garmisch-Partenkirchner schaut der Frau nach. Er hat ein scheiß Bauchgefühl. Irgendetwas passt nicht. Was? Er weiß es drei Schritte später.


Drei Jahrzehnte Ski-Erfahrung: Anton Brey weiß viel – und im Grunde nichts


Den ganzen Winter über steht Anton Brey auf Ski. Seit der denken kann. Früher brachte er es auf um die 100 Tage auf und abseits der Pisten. Heute geht er fast nur noch Skitouren, 40 bis 50 im Jahr. Bei jeder bewegt er sich im Lawinengelände. Denn Breys Gleichung ist einfach: Schnee = Lawine. Das Risiko ist immer da, man kann es nur reduzieren. Indem man sich intensiv mit dem Thema befasst. Nie aufhört, sich damit zu befassen. Auch den Umgang mit Suchgerät, Schaufel, Sonde immer wieder übt.

Seit 30 Jahren ist Anton Brey aus Garmisch-Partenkirchen im Schnee unterwegs. Er kennt sich aus, und weiß im Grunde doch nichts, sagt er. © Michael Reusse 


Seit fast drei Jahrzehnte sammelt Anton Brey Erfahrung und Wissen. Er kennt den Schneedeckenaufbau, hat zahllose Profile gegraben, hat gelernt, den Hang zu lesen, Windzeichen zu deuten, Geräusche beim Gehen einzuordnen. Er weiß viel, sagt er. „Und doch weiß ich im Grunde gar nichts.“ Die Natur folgt keinem Schema.


Der Hang bebt: Anton Brey versteht sein scheiß Bauchgefühlt - zu spät


Mit einem Mal scheint der Hang zu beben. Leise erst. Man spürt es mehr, als dass man es hört. Ein einziger dumpfer Schlag, wie das Wummern eines Basstons, der die Brust zittern lässt. Rechts im Augenwinkel sieht Anton Brey den Riss, nicht mal einen Meter lang. In dem Moment ist alles da. Alle Informationen aus dem Lawinenlagebericht, den er noch am Morgen dieses eigentlich sicheren Tages abgerufen hat. Die Gefahrenstellen: kammnahes Steilgelände, gerade am Übergang von wenig zu viel Schnee. Jetzt kann er sein Bauchgefühl einordnen. Zu spät.


Das Schneebrett reißt Anton Brey um. Der Hang zerspringt in zahllose Teile, ein Puzzle aus Schneeschollen. Sie spielen mit dem Garmisch-Partenkirchner wie mit einem Pingpongball. Er konzentriert sich nur auf eines: irgendwie kontrolliert auf dem Hintern und mit einem Ski am Fuß ins Tal rauschen. Klappt einigermaßen. Nach etwa 200 Metern kommen Eis und Schnee zum Stehen. Er hat es geschafft, denkt Anton Brey. Er bleibt unverschüttet. Dann kommt die Nachlawine.


Gedanken in der Lawine: Ruhig. Du bist nicht allein. 


Zwei Tourengeher kennt der Garmisch-Partenkirchner schon vor der Tour in der Bernina, die übrigen fünf lernt er vor Ort kennen. Lauter super Leute, sagt er. Das gute Gefühl in der Gruppe ist ihm auf jeder Tour, Sommer wie Winter, besonders wichtig. Er muss sich auf seine Kameraden verlassen können.

Zehn Minuten wartet Anton Brey in der Lawine auf seine Rettung. (Symbolbild)


Ruhig. Ruhig. R u h i g! Brey befiehlt es sich immer wieder. Er muss ruhig atmen. Ein und aus. Hyperventiliert er weiter, wird er bald das Bewusstsein verlieren. Also braucht er einen Rhythmus. Darauf konzentriert er sich. Entspann dich. Du bist nicht allein. Seine Freunde werden ihn retten. Er wird seine Familie wiedersehen. Seine Frau und seinen damals 16-jährigen Sohn.


Gefangen im Schnee - Wach bleiben. Da bleiben. Nicht aufgeben.


Etwa ein Meter Schnee liegt auf ihm. Lockerschnee zwar, deshalb dringt Licht durch die Decke. Doch zu viel, um sich selbst zu befreien. Zu viel, um sich zu bewegen. Zumal Anton Brey in einem gepressten Beton aus Schnee liegt, auf dem Bauch, das Knie verdreht. Nur mit dem Kopf kann er leicht wackeln. Schlafen, das wäre jetzt schön. Einfach die Augen zumachen und schlafen. Nein! Wach bleiben. Da bleiben. Nicht aufgeben.

Der Schnee kennt viele Formen. Erfahrung ist das A und O, um sich auf Skitour richtig zu bewegen. © Anton Brey


Acht Minuten lang redet er in Gedanken auf sich ein. Dann unterbrechen Metallschaufeln die Stille. Unerbittlich schlagen sie auf den Schnee ein. Nach zehn Minuten ist Anton Breys Kopf frei, nach gut einer halben Stunde auch sein Körper. „Und? Habt’s a Bier?“ Der Schock. Erst später wird Anton Brey verarbeiten, was da gerade passiert ist.


Heimfahrt nach dem Lawinenunglück: Im Auto kommt das Gefühlskino


Der Helikopter bringt ihn und die drei weiteren Kameraden, die ebenfalls verschüttet wurden, ins Krankenhaus nach Samedan im Oberengadin. Zum Durchecken und Aufwärmen. Blaue Flecken, eine Prellung oder Zerrung – ansonsten hat sich keiner verletzt. Nach gut einer Stunde unter der Wärmelampe gehen sie alle zum Mittagessen. Danach fahren sie heim. Anton Brey allein im Auto.

100 Prozent Sicherheit gibt es am Berg nicht. Erfahrung aber ist entscheidend. Und das bauchgefühlt, sagt Anton Brey. Hier fotografierte er eine Spontanauslösung. © Anton Brey


Die Stille im Schnee hat ihm keine Angst gemacht, die Enge auch nicht. „Das war halt so.“ Das Gefühlskino, wie er es nennt, kommt erst auf dem Weg nach Hause. Fünf Stunden lang macht er sich zwischen Engadin und Garmisch-Partenkirchen Gedanken über die Frage, was gewesen wäre, wenn… Wenn er nicht wieder nach Hause gekommen wäre. Fünf Stunden lang denkt er nur an seine Familie.


Was seine Frau und sein Sohn gesagt haben, als er ihnen am Abend alles erzählte? „Mei, begeistert waren sie nicht.“


Ein Leben ohne Schnee – für Anton Brey keine Option


Anton Brey mag keine großen Worte, kein Drama. Was passiert ist, ist passiert. Einige Nächte schlief er nicht durch, wachte auf wegen Alpträumen. Ganz normal, findet er. Im Alltag habe ihn das Unglück nie belastet. Am Berg brauchte er ein paar Jahre, bis er es verarbeitet hatte.

Anton Brey in seinem Element: unterwegs im Schnee mit Skiern. Doch es dauerte eine Weile, bis er das Lawinenunglück verarbeitet hat. © Matthias Fend


Immer wieder ließ ihn eine Blockade umdrehen. Grundsätzlich geht es ihm nur um die gute Zeit am Berg. Mit Gipfel oder ohne, „das ist mir wurscht“. Doch ständig umzudrehen, „vollkommen unbegründet“, immer mit einem unguten Gefühl – das war auf Dauer keine Lösung.


Ein Leben ohne Schnee – für Anton Brey keine Option


Einige Jahre liegt das Lawinenunglück von 2010 zurück. Die Sendung „Bergauf bergab“ im Bayerischen Fernsehen berichtete darüber. Er hat damit abgeschlossen, sagt Anton Brey. Es beeinflusst ihn nicht mehr. Außer, dass er stärker auf sein Bauchgefühl hört. Meldet es sich, spricht er es in der Gruppe an. Nur gute Argumente überzeugen ihn weiterzugehen.


Das Skifahren oder die Skitouren aufzugeben, kam nie in Frage, hätte auch seine Familie nicht von ihm verlangt. „Verbiete der Katze das Mausen“ – geht auch nicht. Anton Brey lacht. Ein Leben ohne Schnee, das wäre nicht sein Leben. „Das bin ned ich. Und das möchte ich auch nicht sein.“

STECKBRIEF: ANTON BREY

  • Name: Anton Brey
  • Alter: geb. 1968
  • Beruf: Fotograf und Filmer
  • Liebste Beschäftigung: Draußensein, am besten im Schnee und mit Freunden;
    Menschen mit der Kamera einfangen
  • Infos: www.brey-photography.de